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Das außergewöhnliche Fressverhalten der Tigerhaie

Tigerhaie sind nicht wählerisch, wenn es um ihre nächste Mahlzeit geht. Oft als „Müllschlucker der Meere“ verschrien, gibt es scheinbar nichts, das sie noch nicht verschlungen haben: von anderen Haien und Bootsteilen bis hin zu menschlichen Überresten ist alles dabei.

Tigerhai in flachem Küstengewässer
Tigerhai © Gerald Schombs via Unsplash

Der Tigerhai (Galeocerdo cuvier) steht als Meeresräuber an der Spitze der Nahrungskette und besitzt das breiteste Beutespektrum aller bekannten Haiarten. Privilegien, die er seinem kräftigen Körper verdankt, mit dem er eine Gesamtlänge von fünf Metern (in Einzelfällen sogar bis zu sieben Meter) erreichen kann. Das macht ihn zum größten Raubfisch in tropischen und subtropischen Gewässern.

Von Küstenregionen, Korallenriffen, trüben Flussmündungen und dem offenen Meer ist der Tigerhai in allen heißen Regionen zu finden und kann innerhalb einer einzigen Wanderung bis zu 3.000 Kilometer zurücklegen. So pendelt er als Einzelgänger häufig zwischen Revieren, in denen saisonal die größte Anzahl an Beutetieren vorkommt. Dieses Verhalten sichert ihm die Unabhängigkeit von lokalen Fressgründen und den dort schwankenden Nahrungsvorkommen.

Der Name ist Programm

Der Tigerhai ist neben dem Weißen Hai eine der bekanntesten Haiarten und ruft bei vielen Menschen das Bild der namensgebenden „Tigerstreifen“ in den Sinn. Weniger bekannt ist, dass diese Streifen im Laufe der Jahre verblassen und ausgewachsenen Tieren meist das markante Äußere fehlt. Forscher vermuten, dass Jungtiere sich mithilfe der Streifen in flachen Küstengewässern (ihrem bevorzugten Lebensraum) besser tarnen können; dieser Schutz im Alter und damit einhergehender Größe aber nicht mehr benötigt wird, weshalb die Streifen langsam verblassen. Dadurch kommt es vor, dass ausgewachsene Tigerhaie bei Sichtungen mit anderen Arten verwechselt und z. B. für den Weißen Hai gehalten werden, der eine ähnliche Größe erreichen kann.

Schon als Junghaie erfolgreiche Killer

Junge Tigerhaie besitzen ein eher begrenztes Beutespektrum, das sich erst im Laufe des Heranwachsens ändert und erweitert. In flachen Küstengewässern jagen sie ihre bevorzugte Beute wie kleine Knochenfische, Krebse und Weichtiere. Interessant zu beobachten ist die Jagd auf Weichtiere wie Wellhornschnecken und Tritonsschnecken, da die jungen Tigerhaie diese ohne Schale verschlingen. Sie zielen es spezifisch auf die Köpfe der Weichtiere ab. Damit zeigen sie ein selektives Fressverhalten, das unter Meeresbewohnern nur selten zu beobachten ist und ausgewachsenen Haien gänzlich fehlt.

Dass Tigerhaie bereits in jungen Jahren so erfolgreiche Jäger sind, verdanken sie nicht zuletzt ihrer harschen Kinderstube. Ihr Kampf ums Überleben beginnt noch vor der Geburt, wenn sich die frisch geschlüpften Haie gegen ihre eigenen Geschwister behaupten müssen. Denn Tigerhaie sind lebend gebärend. Das bedeutet, Nachkommen schlüpfen bereits in der Gebärmutter aus ihren Eiern und kommen nach einer Tragzeit von etwa 15 Monaten lebend zur Welt – das gilt allerdings nicht für alle Schützlinge. Die Nachkommen des Sandtigerhais töten und verspeisen sowohl andere Eier als auch bereits geschlüpfte, schwächere Embryos im Mutterleib. Durch diesen vorgeburtliche Kannibalismus schaffen sie sich bereits Nahrungskonkurrenten aus der eigenen Familie vom Hals. Was wie eine unnötig brutale Laune der Natur klingt, bereitet die Jungtiere schon auf das harte Leben im Meer vor und lässt sie als perfekte Jäger zur Welt kommen.

Der größte Speiseplan aller Haiarten

Bei erwachsenen Tigerhaien zeigt sich mit erweitertem Lebensraum auch ein deutlich breiteres Beutespektrum, als bei Junghaien. Auf dem Speiseplan stehen neben Weichtieren auch größere Knochenfische wie Barsche und Kugelfischartige (Tetraodontiformes) und Knorpelfische wie Rochen und andere Haie. Je nach Gebiet, in dem sich die Tigerhaie aufhalten, variieren die dort ansässigen Beutetiere. So gehören vor der Küste Australiens z. B. Seeschlangen und vor der Ostküste der USA auch Schweinswale und Pfeilschwanzkrebse zu ihrer bevorzugten Beute. Gebietsübergreifend jagen Tigerhaie auch Meeressäuger wie Delfine und kleinere Wale, Krebstiere wie Krabben und Kopffüßer wie Kalmare. Auch die ein oder andere Qualle findet ihren Weg in die Mägen der Haie.

Durch ihre starken Kiefer erfreuen sich Tigerhaie an einer einzigartigen Delikatesse: die Grüne Meeresschildkröte (Chelonia mydas). Durch ihr Gebiss und schräg stehenden Zähne ist es ihnen als einzige Haiart möglich, die stabilen Schildkrötenpanzer durchzubeißen, um an das schmackhafte Fleisch zu kommen. Das mag grausam klingen, aber in Wirklichkeit agiert der Tigerhai damit als wichtiger Regulator für marine Ökosysteme. Andernfalls würden Meeresschildkröten in der Überzahl die bereits schrumpfenden Seegraswiesen so stark abweiden, dass anderen marinen Bewohnern nicht nur die Brutstätte, sondern auch die Nahrungsgrundlage genommen werden würde.

Der breit gefächerte Speiseplan der Tigerhaie beschränkt sich dabei nicht nur auf Meeresbewohner. Mitunter werden auch Seevögel zum Ziel, die auf ihrer Jagd nach Fisch ins Meer eintauchen oder beim Rasten auf der Wasseroberfläche zu leichter Beute werden. Besonders frisch geschlüpfte und noch unerfahrene Jungvögel werden damit schnell zur nächsten Mahlzeit.

Eine erstaunliche Entdeckung machten Forscher an der Südküste der USA, als sie Überreste von Landvögeln im Verdauungstrakt der Tigerhaie fanden (Drymon et al., 2019). Die Erklärung für dieses Phänomen ist allerdings recht simpel und hat nichts mit fliegenden Haien zu tun. Die Forscher vermuten, dass schwache und kranke Vögel zu Migrationszeiten im Frühjahr und Herbst ins Wasser stürzen und dort von ansässigen Meeresräubern gefressen werden. In den Mägen, der im Laufe der Studie untersuchten Tigerhaie, ließen sich unter anderem unverdaute Überreste der Rauchschwalbe (Hirundo rustica) und Weißflügeltaube (Zenaida asiatica) finden, bei denen es sich um zwei landlebende Zugvogelarten handelt.

Eine weitere Gruppe von Wissenschaftlern konnte beobachten, wie Tigerhaie sich bei einem Vogel-Massensterben (mit unbekannter Ursache) vor der Küste Floridas an sterbenden und bereits toten Vögeln bedienten (Gallagher et al., 2011). Mit diesem Fressverhalten zeigten sich Tigerhaie nicht nur als aktive Räuber, sondern auch als opportunistische Aasfresser. Die Jagd auf tote Vögel ist dabei kein Einzelfall. Tigerhaie konnten bereits mehrfach dabei beobachtet werden, wie sie sich an Walkadavern nährten und das Aas scheinbar friedlich mit anderen Raubtieren teilten.

Ihr großer Appetit beschert den Tigerhaien leider nicht immer eine nahrhafte Mahlzeit. Wiederholt wurde allerhand Müll im Verdauungstrakt der Tiere gefunden. Von Autokennzeichen, Reifen, Farbdosen und Flaschen bis hin zu Plastik, Metall, Teilen von Booten und sogar scharfer Munition häufen sich die überraschenden Funde. Während andere Meeresbewohner an einem Magen voll Müll langsam verhungern würden, besitzt der Tigerhai eine besondere Fähigkeit, die sein Überleben sichert: Er kann bereits verschlungenes wieder aufstoßen und aus seinem Magen befördern. Ein kluger Schachzug, der es ihm erlaubt, sein Leben als Allesfresser in vollen Zügen zu genießen.

Angst vor Tigerhaien groß, aber unbegründet

Berichtete Angriffe auf Menschen und der Fund von halb verdauten menschlichen Überresten haben dem Tigerhai einen schlechten Ruf verschafft. Dabei stehen wir weder auf dem Hai-Speiseplan, noch sind wir mit unserer Kleidung und Taucherausrüstung besonders schmackhaft.

Ganz im Gegenteil: Erfahrene Taucher beschreiben den Tigerhai als entspannten und neugierigen Gesellen, der seine Umgebung ruhig beobachtet, bevor er handelt. Übergriffe auf Menschen seien nur passiert, wenn der Hai sich gestört oder bedroht fühlte, z. B. durch irritierende Unterwasserfotografie. Dadurch sei es vorgekommen, dass die Haie eine schlagartige Änderung im Verhalten zeigten und Taucher attackieren. Glücklicherweise sind Haiangriffe auf den Menschen eine absolute Seltenheit, besonders in Anbetracht der schieren Menschenmengen, die täglich im Meer baden, tauchen oder surfen.

Dass es dennoch zu einer ungewöhnlich hohen Todeszahl unter den wenigen Opfern kommt, ist dem rabiaten Fressverhalten der Tigerhaie zuzuschreiben. Denn im Gegensatz zu anderen Haiarten wie dem Weißen Hai testet der Tigerhai seine Beute nicht mit einem Probebiss und spuckt diesen bei Nichtgefallen wieder aus, sondern verschlingt seine Beute direkt. Für uns Menschen eine ungünstige Situation, da wir den Großteil unseres Körpers zum Überleben benötigen.

Die noch immer vorherrschende Angst vor Haien und das damit einhergehende negative Image der Tiere spielen eine große Rolle in den jährlich schrumpfenden Populationszahlen. Die IUCN (International Union for Conservation of Nature) stuft den Tigerhai aktuell als „potenziell gefährdet“ ein, da er in vielen Teilen der Welt noch immer aktiv (und legal) gejagt oder als Beifang aus dem Meer gefischt wird.

Glücklicherweise findet inzwischen ein Umdenken der Menschen statt. Haie gelten vielerorts nicht mehr als die skrupellosen Killermaschinen, als die sie einst porträtiert wurden, sondern als essenzielle Bestandteile des Ökosystems Meer. Besonders ihre wichtige Rolle für das Überleben der Korallenriffe und das biologische Gleichgewicht rückt immer mehr in den Vordergrund und sorgt weltweit für Unterstützungen bei der Einrichtung neuer Meeresschutzgebiete und Gesetze zum Schutz dieser bedeutsamen Tiere.

Weiterführende Literatur

  • Aines, A. C., Carlson, J. K., Boustany, A., Mathers, A. & Kohler, N. E. (2017). Feeding habits of the tiger shark, Galeocerdo cuvier, in the northwest Atlantic Ocean and Gulf of Mexico. SpringerLink. Abgerufen am 2. April 2022, von https://doi.org/10.1007/s10641-017-0706-y
  • Bergbauer, M. & Kirschner, M. (2020). Haie. In Gefährliche Meerestiere: Die spektakulärsten Arten entdecken (S. 48–55). Franckh Kosmos Verlag.
  • Drymon, J. M., Feldheim, K., Fournier, A. M. V., Seubert, E. A., Jefferson, A. E., Kroetz, A. M. & Powers, S. P. (2019). Tiger sharks eat songbirds: scavenging a windfall of nutrients from the sky. Ecology, 100(9). https://doi.org/10.1002/ecy.2728
  • Gallagher, A. J., Jackson, T. & Hammerschlag, N. (2011). Occurrence of tiger shark (Galeocerdo cuvier) scavenging on avian prey and its possible connection to large-scale bird die-offs in the Florida Keys. Florida Scientist, 74(4), 264–269. https://www.researchgate.net/publication/228520541
  • Podbregar, N. & Lohmann, D. (2013). Kannibalismus – “Dinner for One” unter Artgenossen: Geschwistermord bei Tieren. In Im Fokus: Strategien der Evolution (S. 20–21). Springer Spektrum.

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